Seit etwa einem Jahr wohne ich in Skandinavien. Fast ebenso lang versuche ich, die dort gesprochene Sprache zu erlernen. Das ist gar nicht so einfach. Viele Menschen, denen ich begegne, sprechen fließend Englisch und, was es noch schwieriger macht, sogar Deutsch, noch dazu ein recht gutes. Ich arbeite von zu Hause aus und habe daher keine Kollegen hier vor Ort und auch sonst nur recht wenig echten Kontakt zu Einheimischen. Ich bemühe mich jeden Tag, der Sprache besser Herr zu werden. Ich übe die Grammatik, lese Bücher für Lese- oder Sprachanfänger, suche nach Gelegenheiten, meine Sprachkenntnisse praktisch anzuwenden und sehe mir Dokumentationen (natürlich unübersetzte) im Fernsehen an, um mich an die Aussprache zu gewöhnen; manchmal sind sie mit Untertiteln versehen – lesen ist deutlich einfacher – manchmal nicht.

Kleine erste Erfolge

Beim sonntäglichen Kirchenbesuch verstand ich anfangs kein Wort. Inzwischen kann ich einem einfachen Unterricht folgen, ohne dass jemand für mich übersetzt. Wenn jemand vor der Gemeinde spricht und dabei etwas Vorbereitetes vorliest, wird es aufgrund der Lesegeschwindigkeit für mich doch schwierig. Da ich aber gerne dazulernen möchte, versuche ich trotzdem, so oft wie möglich auf Übersetzung zu verzichten. Während des eigentlichen Gottesdienstes greife ich jedoch meist auf die angebotene Übersetzung ins Englische zurück, einfach um sicherzustellen, dass ich Nutzen aus den Botschaften ziehen, den Heiligen Geist fühlen und mich für die folgende Woche aufbauen kann. Verstehe ich nur Teile eines Unterrichts oder einer Ansprache, ist das zumindest schwieriger.

Ich erinnere mich gerne daran, wie stolz ich war, als jemand mich neulich an der Bushaltestelle etwas fragte und ich nicht nur wusste, was mein Gegenüber von mir wollte, sondern auch in seiner Sprache antworten konnte.

Vielleicht habt ihr Ähnliches schon erlebt.

Ein Etikett aus fremder Sicht

Warum ich euch das erzähle? Nun, so freundlich die Leute um mich herum auch sind, fast jeden Sonntag kommt ein bestimmtes Mitglied meiner Kirchengemeinde zu mir, um mir sein persönliches Feedback über meine Leistungen zu geben. Sicherlich will er mir nichts Böses,  findet sich womöglich sogar witzig. Doch jedes Mal kritisiert er mich dann dafür, dass ich die Sprache immer noch nicht spreche. Vor ein paar Wochen, nach einem besonderen Gottesdienst, bei dem ich alles mitbekommen wollte und bei dem mein Mann für mich übersetzte, kam er wieder und fragte mich, was wohl zuerst geschehen würde, dass mein Mann seine Stimme verlöre oder ich endlich die Sprache lernen würde.

Maria Magdalena

Der Herr aber sieht das Herz

Nun ist das Beispiel kein besonders Schwerwiegendes, und wahrscheinlich meint der gute Mann es wirklich nicht böse. Aber es macht mich nicht nur traurig, sondern auch nachdenklich. Dieser Bruder weiß gar nichts über mich. Er sieht nicht, wie viel Zeit ich aufwende, um seine Sprache zu sprechen. Er kennt die Umstände nicht, er weiß nicht, dass ich meinen Mann oft darum bitte, mit mir in seiner Muttersprache zu sprechen, um wenigstens ab und zu die Gelegenheit zu haben, mich in der neuen Sprache zu üben.

Die Situation hat mich an die bekannte Schriftstelle in 1. Samuel 16,7 erinnert. Der Herr gebietet Samuel, an Sauls Stelle einen neuen König zu salben. Samuel trifft dabei auf verschiedene Personen, die sich in seinen Augen sicherlich als Könige eignen. Doch der Herr erinnert Samuel: „Sieh nicht auf sein Aussehen und seine stattliche Gestalt, denn ich habe ihn verworfen; Gott sieht nämlich nicht auf das, worauf der Mensch sieht. Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der Herr aber sieht das Herz.”

… und vergibt keine Etiketten

Vielleicht sollten wir uns von Zeit zu Zeit ins Gedächtnis rufen, dass wenn wir die Umstände von Menschen nicht kennen, sie auch nicht beurteilen sollen, von verurteilen ganz zu schweigen. Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der Herr aber sieht das Herz. Der anfangs erwähnte Bruder kann nicht wissen, wie sehr ich mich bemühe, die Sprache zu erlernen. Er hat mich auch nie gefragt, wie viel Fortschritt ich inzwischen gemacht habe und mich nur in meinen ersten Wochen zwei-, vielleicht dreimal auf Dänisch angesprochen. Er sieht nicht, dass ich die meiste Zeit auf Übersetzungen verzichte und nur ab und zu mal eine Wortbedeutung erfrage, weil er mich nur während des Gottesdienstes sieht, wenn ich es mir für eine Stunde „gemütlich mache”. Wie dankbar ich dafür bin,  dass Gott mich kennt! Dass er – nicht nur in dieser Situation – mein Herz kennt, dass er weiß, wie sehr ich mich in verschiedenen Situationen bemühe. Niemand kennt uns so, wie Gott uns kennt.

Ein schönes Video darüber, wie es ist, anderen zu helfen, ohne über sie zu richten, findet ihr hier (auch wenn das Video auf Englisch ist, lässt sich leicht verstehen, worum es hier geht)

Versuchen wir uns mehr darum zu bemühen, über Menschen nicht zu richten und, statt dass wir das Schlimmste annehmen, wir vielmehr vom Besten ausgehen, nämlich davon, dass sie bemüht sind, ihr Bestmögliches zu geben. Gott weiß um unsere Bemühungen und Anstrengungen und klebt uns kein Etikett „hoffnungslos” auf. Deswegen sollten auch wir andere nicht richten.

 

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