Im Anfang, als ich das Alte Testament zum ersten Mal las, zu Hause, allein, erschien mir der ganze Band wüst und wirr und Finsternis lag über nahezu jeder Seite. Aber Gottes Geist schwebte über mir solange ich ausharrte, und schließlich, ganz allmählich, wurde es Licht, während ich begann einen Eindruck von seiner übergreifenden Struktur und der allgemeinen Erzählweise zu gewinnen. Seine Bücher unterschieden sich voneinander und ich begann ihre unverwechselbaren Eigenschaften und Ziele zu sehen. Und dies war das erste Mal, dass ich das Alte Testament las, im Alter von 19 Jahren, nach meinem ersten Studiensemester, kurz vor meiner Mission.

Und später, nachdem ich einige Monate auf Mission war, sprach mein Missionspräsident: „Lasst jeden Missionar alle Standardwerke mindestens einmal pro Jahr lesen und lasst die Zusammenhänge zwischen diesen Schriften offensichtlicher werden.“ Und so geschah es. Und während ich las, wurde mir bewusst, wie das Neue Testament, das Buch Mormon sowie Lehre und Bündnisse aus dem Alten Testament schöpften, darauf aufbauten, seine Geschichten erweiterten und seine vielen Botschaften aufwerteten. Und mein Missionspräsident nannte dies eine gute Lektion, und dies war das zweite Mal, dass ich das Alte Testament las.

Und mein Missionspräsident sprach direkt zu mir, in einer Unterredung: „Gut, wenn du wirklich denkst, dass es Dir helfen wird, in deiner Missionsarbeit effektiver zu sein, wenn du dich auf das Alte Testament konzentrierst, dann sammle alle nötigen Bücher zu diesem Thema und lies sie. Lass zusätzliche Studienziele erscheinen und setze den Schwerpunkt besonders auf den Abrahamischen Bund, auf die Wiederherstellung des Hauses Israel und auf die Prophezeiungen bezüglich des Messias, der da kommen soll.“

Und mein Missionspräsident überwachte alle meine Anstrengungen und stellte sicher, dass sie gut waren, und ich brachte ergänzende Notizbücher und Schaubilder und Berichte hervor; und mein Wissen der Abstammungslinien und Verheißungen im Alten Testament trug Früchte nach seiner eigenen Art. Und dies war das dritte Mal, dass ich das Alte Testament las.

Und zwei Jahre später sprach einer meiner Religionslehrer an der BYU: „Lasst meine Studenten das Alte Testament im Zusammenhang mit der Geschichte des Nahen Ostens lesen, damit etwas von dem Wissen der Ägypter, Babylonier, Assyrer und Perser zusätzlichen Zusammenhang und Verständnis der Ereignisse darin gewähren möge.“ Und so gab er uns zwei Lichter, um damit das Alte Testament besser zu verstehen: das Licht des Geistes, um geistige Wahrheiten zu enthüllen, und das Licht der wissenschaftlichen Forschung, um historische und kulturelle Wahrheiten aufzudecken. Und ich sah, dass diese beiden großen Lichter dazu gereichten das Alte Testament zu erleuchten. Und er prüfte unser Wissen und ließ uns Abhandlungen über unsere Forschungsergebnisse schreiben. Und dies war das vierte Mal, dass ich das Alte Testament las.

Und derselbe Religionslehrer sprach auch: „Lasst meine Schüler durch ihre Lektüre reichlich echte Menschen hervorbringen, Männer und Frauen mit Fehlern und Schwächen, die falsche Entscheidungen treffen, aber oft aus diesen Irrtümern lernen, umkehren und sich auf heldenhafte Art verändern.“ Und weiter sprach er: „Lasst diese Untersuchung fruchtbar sein und möge sie die Helden meiner Studenten vermehren und Vorbilder für sie schaffen, aus denen sie Nutzen ziehen und denen sie folgen.“ Und so lernte ich Abraham und Sarah kennen, Isaak und Rebekka, Jakob und Lea und Rahel und Esau und viele andere mehr; und ich bewunderte sie, wenn sie glaubenstreu waren, und litt mit ihnen, wenn sie es nicht waren; und ich lernte, diese Menschen als Freunde zu betrachten. Und dies war das fünfte Mal, dass ich das Alte Testament las.

Und nachdem ich die BYU verlassen hatte, sprach mein Bischof zu mir: „Du denkst also, dass du das Alte Testament kennst, richtig? Nun, lies es erneut und unterrichte dieses Jahr die Sonntagsschulteilnehmer darüber. Und es soll Erkenntnisse hervorbringen, die du bisher übersehen hattest.“ Und so geschah es. Und als ich das Alte Testament erneut las, sah ich, scheinbar zum ersten Mal, wie der Herr versuchte, ein Königreich von Priestern aufzurichten, ein heiliges Volk, in einem Land, wo er über allem herrschte, die Schlachten seiner Untergebenen schlug, ihre Probleme löste und ihre Fehler wiedergutmachte. Und ich sah, wie sehr der Herr trauerte, wenn sein Volk ihm einen weltlichen König vorzog, damit sie so sein könnten, „wie es bei allen Völkern der Fall ist“, und ich fing an mit dem Herrn emotional verbunden zu sein, wie ich es nie zuvor gewesen war.

Ich verspürte seine Liebe, wenn er sein Volk immer wieder geduldig rief durch die vielen Stimmen des Alten Testaments – die poetische Stimme Jesajas, die beharrliche Stimme Jeremias, die visionenhafte Stimme Ezekiels, die sehr menschliche Stimme Jonas – und ich verstand, wie falsch es war, Jehova als einen Gott des Zorns und der Regeln zu bezeichnen. Ich begann, ihn mir als einen stets geduldigen Vater vorzustellen, ein Wesen tiefer Gefühle, voller Mitleid, Barmherzigkeit und Fürsorge. Und ich sah, dass diese Vorstellung fruchtbar war und mein Verständnis des Alten Testaments sowie meine Wertschätzung für Jesus und sein Evangelium sehr verstärkte. Und ich sah, dass dies nicht nur gut war, sondern sogar sehr gut. Ich fühlte, dass ich endlich das Alte Testament unterworfen hatte, und dies war das sechste Mal, dass ich das Alte Testament las.

Und als ich viele Jahre später berufen wurde, das Alte Testament beim Seminar am frühen Morgen zu unterrichten, hatte ich nun vor zu ruhen, nachdem ich mein ganzes Werk vollbracht hatte. Ich fühlte, dass es nichts Neues mehr gab, das ich noch nicht über das Alte Testament wusste, dass weiteres Studium nichtig war, und ich freute mich darauf, über dieses Buch der Weisung immer zu reden, ohne darüber Tag und Nacht nachsinnen zu müssen, wie ich es einst getan hatte. Aber so geschah es nicht.

Vielleicht weil ich junge Menschen unterwies, staunte ich über den ideenreichen Anschauungsunterricht des Herrrn: die Plagen, das Passah, das Manna, die Schlange. Und ich war erstaunt über die Ansammlung von Lehrmitteln im mosaischen Tempel, die alle dazu dienten, sein Volk in den ewigen Grundsätzen zu unterweisen: in Gehorsam, Opfer, rechtschaffener Achtung, Treue, Weihung, Dankbarkeit und Liebe. Levitikus faszinierte mich auf einmal, als ich anfing zu verstehen, wie Gottesverehrung durch Symbole funktioniert und ich begann viele Verbindungen zu modernen Tempeln zu sehen und ich war erstaunt.

Und so geht es weiter. Bis zum heutigen Tage studiere ich das Alte Testament – ich lese regelmäßig darin, lerne sein Schriftgut kennen, mache seine Quellen ausfindig, erfreue mich an seinen Einzelheiten, um seine vielen Bedeutungen zu erlernen und Dienst durch seinen Schöpfer zu erfahren. Er mag es geschafft haben, die Erschaffung der Erde an sechs Schöpfungstagen zu vollenden, aber ich bin sicher, dass sein Werk an mir durch das Alte Testament nie zu Ende sein wird, sicher nicht beim siebten Lesen oder sogar beim siebzigmal siebenmalten, Welten ohne Zahl.


Der Beitrag wurde aus dem Englischen übersetzt. Er wurde ursprünglich am 04.04.18  auf ldsmag.com unter dem Titel „Coming to Love the Old Testament” veröffentlicht. Der Autor ist Bradley J. Kramer. Übersetzt von Tabea Seeborg.

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